VWI: Das Ende der Geschichte

Kommentar: Ingo Zechner

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Eine Kurzfassung dieses Kommentars ist im Nachrichtenmagazin profil (Nr. 49, 30.11.2009) erschienen (siehe Medienberichte).

Ariel Muzicant wirft Anton Pelinka und Ingo Zechner vor, das Wiener Wiesenthal Institut (VWI) zerstören zu wollen (profil Nr. 47, 16. November 2009). Das haben er und einige „Unguided Missiles“ aus seiner Umgebung jedoch längst selbst besorgt.

Es gibt Szenen im Leben, die möchte man nicht erlebt haben: Ariel Muzicant, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), spricht am Rande einer Sitzung über seine Motive im Konflikt um das IKG-Archiv. Er will verhindern, dass bestimmte Archivteile öffentlich werden. Drei Beispiele nennt er: den Streit mit der Orthodoxie, Akten zu Simon Wiesenthal und Bruno Kreisky, in denen sein Vater eine Rolle als Vermittler spielen soll – und Murmelstein. Brigitte Bailer-Galanda, Leiterin des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW), nickt: „Das verstehe ich. Das ist klar. Das verstehe ich.“

Was kann man da verstehen? Beim Streit mit der Orthodoxie aus dem vorletzten Jahrhundert ist es die Angst, dass sich Orthodoxe durchs Archiv inspirieren lassen könnten, wie man die IKG spaltet. Grotesk? Ja, aber das Prinzip ist klar: Was tagespolitisch nicht opportun ist, soll nicht zugänglich sein. Heute sind es die Orthodoxen, morgen die Zionisten und übermorgen die Unionisten. Bei Wiesenthal und Kreisky sind es private Interessen. Doch hat oder hatte nicht jedes IKG-Mitglied Angehörige? Warum sollte für den Vater des IKG-Präsidenten eine Ausnahme gemacht werden und wer würde als nächstes intervenieren?

Das dritte Beispiel ist weniger grotesk als alarmierend: Der Name Murmelstein steht als Synonym für die IKG in der NS-Zeit. Als Leiter der Auswanderungsabteilung und stellvertretender Amtsdirektor der IKG hat der junge Rabbiner Benjamin Murmelstein eine Schlüsselrolle bei der Auswanderung und Deportation der Wiener Juden gespielt. Was Doron Rabinovici über ihn publiziert hat („Instanzen der Ohnmacht“, 2000), sei das Maximum, das der österreichischen Öffentlichkeit zumutbar ist, so Muzicant. Mehr gehe nicht.

Doch wer entscheidet, was der Öffentlichkeit zumutbar ist? Das Präsidium oder Generalsekretariat der IKG? Im gescheiterten VWI-Konzept war es ein hochkarätiger Internationaler Wissenschaftlicher Beirat, der die Qualität der Forschung und Vermittlung sichern sollte. Das Simon Wiesenthal Archiv und das IKG-Archiv sollten unter einem Dach zusammengeführt werden und eine Basis für die Arbeit des VWI bilden. Beide Archive sollten für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich sein: vor Ort im Benutzersaal des VWI und so weit möglich auch in digitaler Form über ein Intranet. Für die IKG war ein privilegierter Zugang zu ihrem Archiv vorgesehen.

Glaubt Muzicant allen Ernstes, dass es einen geheimen Plan gab, die Akten zu kopieren und die Kopien auf den Flohmärkten dieser Welt zu verkaufen? Oder ist ihm bloß jedes Argument recht? Dass beide Archive im Eigentum ihrer jeweiligen Träger bleiben, stand von Anfang an außer Streit. Es war stets Teil des Konzepts, dass sie dem VWI als Leihgabe übergeben werden, nicht als Schenkung. Den Leihgebern hätte das VWI die Last der Unterbringung, Sicherung, Betreuung und Zugänglichmachung abnehmen und dafür die Nutzungsrechte erhalten sollen. Die Einhaltung des strengen österreichischen Datenschutzgesetzes, das Daten lebender Personen schützt, war für das VWI eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit. Sogar die analoge Anwendung des Bundesarchivgesetzes mit seinen Schutzfristen war unumstritten. Dazu hätte es keiner Verhandlungen bedurft. Eine vom VWI selbst vorgeschlagene rigorose Benutzungsordnung hätte die Registrierung jedes Archivbenutzers mit amtlichem Lichtbildausweis und ein mehrstufiges Bewilligungsverfahren zur Voraussetzung jeder Archivbenutzung gemacht: Zutrittsbewilligung bzw. Benutzungsbewilligung für die Person, Einsichtsbewilligung und Reproduktionsbewilligung für jeden Akt. Die Bewilligungen hätten vom hochqualifizierten Archivpersonal des VWI erteilt werden sollen.

Der IKG-Führung war all das nicht genug. Ihr ging es nicht um archivarische und wissenschaftliche Standards, obwohl Muzicant an der Konzeption des VWI als unabhängiger Forschungseinrichtung und an den politischen Verhandlungen über seine Finanzierung bis zuletzt persönlich beteiligt war. Als der Streit im Jänner 2009 begann, waren von Mobbing begleitete Personalentscheidungen im IKG-Archiv der erste Schritt. Es folgten eine organisatorische und räumliche Abtrennung des VWI vom Archiv und die Herabstufung des VWI von einem gleichberechtigten Partner zu einer Art externen Archivbenutzer.

Selbstverständlich lagen diese und ähnliche Entscheidungen in der Autonomie der IKG. Sie widersprachen jedoch dem VWI-Konzept und zerstören das Finanzierungsmodell des VWI: Je ein Drittel der laufenden Kosten werden von Bund und Stadt Wien übernommen, das fehlende Drittel durch Eigenleistungen des VWI und seiner Mitglieder aufgebracht. Vor Aufnahme des für 2012 geplanten Vollbetriebs bestehen 67% dieser Eigenleistungen aus den Aufwendungen der IKG für ihr Archiv. Doch was sind diese Leistungen wert, wenn sie dem VWI nicht zugute kommen und dessen Arbeit behindern?

Die von der IKG-Führung seit März 2009 vorgelegten Leihvertragsentwürfe waren Produkte einer Kontrollneurose: Einzelbewilligung jeder Fotokopie, Publikation oder Ausstellung eines Dokuments durch die IKG, sogar jeder Verknüpfung von Daten mit Daten aus anderen Archiven. IKG-Aufpasser sollten beim Scannen von Mikrofilmen anwesend sein, Festplatten ausgebaut und von der IKG gelöscht werden. Doch warum sollte das VWI mit öffentlichen Geldern das IKG-Archiv verwahren, wenn es nichts damit tun darf?

Nach dem Rücktritt des VWI-Vorstands am 20. Juli 2009 wurde manches rückgängig gemacht, vieles ist geblieben. In den beiden entscheidenden Punkten hat sich die IKG-Führung durchgesetzt, mit Hilfe der Verhandlungsführung von Bailer-Galanda und Bertrand Perz auf Seiten des VWI: beim Umfang des Archivs und bei der Herstellung von Reproduktionen.

- Das VWI soll laut Vertrag nur einen Teil eines Teils des Archivs erhalten, wobei sich die IKG vorbehält, auch davon Dokumente oder Akten nach Gutdünken auszunehmen.

- Das VWI soll wie ein Dienstleister mit öffentlichen Geldern für die IKG Reproduktionen herstellen (auf Mikrofilm und in digitaler Form) – unter der ständigen Drohung, die Nutzungsrechte an ihnen wieder zu verlieren.

Statuarischer Zweck des VWI ist die Forschung, Dokumentation und Vermittlung zu allen Fragen, die Antisemitismus, Rassismus und Holocaust, einschließlich dessen Vorgeschichte und Folgen, betreffen. Die im Vertrag festgeschriebene Beschränkung des Archivguts auf die Jahre 1919–1970 behindert die Erfüllung dieses Zwecks. Was ist mit der Zeit Karl Luegers, Georg Ritter von Schönerers und all der anderen Antisemiten? Und sogar aus dem Zeitraum 1919–1970 sollen nur jene Teile zur Verfügung gestellt werden, die Antisemitismus, Rassismus und Holocaust betreffen bzw. einen direkten NS- und/oder Holocaustbezug aufweisen. Das kann – widersprüchlich in sich selbst – eng oder weit interpretiert werden. Wer stellt den inhaltlichen Bezug fest? Was Aufgabe der Forschung ist, soll bereits im Vorfeld durch das Archivpersonal der IKG erledigt werden.

Es wäre ein Missverständnis zu glauben, dass es sich bei all dem nur um Trennungsschmerzen eines Leihgebers handelt, der nach Jahren des Desinteresses plötzlich die Liebe zu seinem Archiv entdeckt hat. Die zeitlichen und thematischen Einschränkungen betreffen nicht nur Originale, sondern auch jegliche Form von Reproduktionen – sogar wenn diese andernorts bereits zugänglich sind, etwa in Washington D.C. (United States Holocaust Memorial Museum) oder Jerusalem (Central Archives for the History of the Jewish People).  Dass sich die IKG zusätzlich das Recht vorbehält, Dokumente oder Akten bei Bedarf auszunehmen, finden manche wie Bailer-Galanda nur zu verständlich. Seriöse historische Forschung verliert jedoch ihre Grundlage, wenn die Vollständigkeit der Dokumente fraglich ist. Muzicant verwahrt sich gegen den Vorwurf der Zensur. Aber wie will er das sonst nennen?

Der Vertrag ist so verschroben und sachfremd formuliert, dass es eines Rechtsgutachtens bedarf, wenn man bei seiner Anwendung in keine Falle tappen, keine Vertragsverletzung begehen und keinen Auflösungsgrund liefern will. Dass eine skeptische Mehrheit im VWI zuletzt bereit war, ihn zu akzeptieren, ist auf eine Hoffnung zurückzuführen: Ein unabhängiger VWI-Vorstand würde garantieren, dass er weniger forschungsfeindlich gelebt wird, als er geschrieben ist. Diese Hoffnung hat mit der Neuwahl des VWI-Vorstands am 5. November 2009 ihre letzte Grundlage verloren.

Georg Graf, der neue Vorsitzende des VWI-Vorstands, wurde von Muzicants Sekretärin ins Spiel gebracht, die ihn während des Konflikts als Berater beigezogen hat. Die neuen stellvertretenden Vorsitzenden heißen Muzicant und Bailer-Galanda. Eine Vertrauensperson Muzicants hat die von Simon Wiesenthal beauftragte Leiterin seines Archivs im VWI-Vorstand ersetzt. Fünf von nunmehr sechs VWI-Vorstandsmitgliedern wurden von Muzicant nominiert. Muzicant sagt, der Archivzugang sei jetzt unbeschränkt möglich. Wer könnte ihm da widersprechen? Was er als IKG-Präsident sagt, kann er als VWI-Vorstand bestätigen. Die IKG kann nun den umstrittenen Vertrag gleichsam mit sich selbst schließen.

Vier von sieben Mitgliedern des VWI-Gründungsvorstands stehen nicht mehr zur Verfügung. Unter ihnen der langjährige IKG-Generalsekretär und IKG-Archivbeauftragte Avshalom Hodik, der als Historiker und Archivar das IKG-Archiv wie kein anderer kennt. Und Lutz Musner, der als stellvertretender Direktor des IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften viele internationale Kontakte des VWI hergestellt und seine Expertise in der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses eingebracht hat. Beinahe die gesamte, vom VWI-Gründungsvorstand einstimmig bestellte VWI-Administration ist ausgeschieden. Darunter eine erfahrene frühere Mitarbeiterin des Wissenschaftsministeriums und der IT-Verantwortliche, der für Hauptprojekte der Anfangsphase zuständig war. Zwölf von fünfzehn Mitgliedern des Internationalen Wissenschaftlichen Beirats sind am 16. November 2009 zurückgetreten.

Ein am 1. Juli 2000 in der Tageszeitung „Der Standard“ publiziertes Foto zeigt Muzicant, mit einer Deportationsliste aus NS-Akten der Wiener Finanzlandesdirektion. Zitat: „Es gibt sicher noch mehr.“ Muzicant wird mit der Forderung zitiert, alle Archive müssten öffentlich zugänglich gemacht werden. Es gibt tatsächlich noch mehr. Das Gegenstück zur Liste befindet sich im IKG-Archiv. Doch beim eigenen Archiv ist offenbar Schluss mit der Öffnung.

Wollte Muzicant, der so viel für die IKG geleistet hat, nicht als Aufklärer in die Geschichte der Zweiten Republik oder zumindest der IKG eingehen? Er umgibt sich mit Jasagern, Schmeichlern und Leuten von zweifelhafter Kompetenz, die seine Schwächen und Ängste geschickt zu nutzen verstehen. Eine Art Königsdrama im Herbst einer politischen Karriere.

28. November 2009

 

Ingo Zechner, Historiker und Philosoph, war ab Jänner 2009 Geschäftsführer des VWI und seit 2002 als leitender Mitarbeiter der IKG (Restitution, Archiv) federführend an der Planung und Umsetzung des VWI-Projekts beteiligt. Er ist gemeinsam mit dem VWI-Vorstandsvorsitzenden Anton Pelinka zurückgetreten.