Die Grenzen des Digitalen: Audiovisuelle Medien & zeitgeschichtliche Forschung

Siegfried Mattl, Alexander Horwath, Ingo Zechner, Robert Pfundner

Panel 18 im Rahmen des Zeitgeschichtetages 2012 in Linz

JKU - Johannes Kepler Universität, Altenbergstr. 69, 4040 Linz (Raum SZ 2)

Donnerstag, 4. Oktober 2012, 14:00-15:30

Zum „Digital Turn“ zählt die Erfahrung der Omnipräsenz, der Ort- und Zeitlosigkeit von Dingen, die plötzlich überall und jederzeit verfügbar zu sein scheinen. Wo die digitalen Medien und insbesondere das Internet einen Durchbruch zu einer neuen Grenzenlosigkeit versprechen, tun sie das stets in einem Spannungsverhältnis zu Erfahrungen von Grenzen des geographischen, politischen und ökonomischen Raumes. Während ein kulturwissenschaftlicher und zeitgeschichtlicher Befund zum „Digital Turn“ noch aussteht, ist er in den audiovisuellen Medien auf technologischer Ebene bereits vollzogen.

Fotografie, Kinematografie und Tonaufzeichnung bedienen sich zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts mit wenigen Ausnahmen digitaler Verfahren zur Produktion, Distribution, Präsentation und Archivierung. Da ihnen ihre technische Reproduzierbarkeit schon eingeschrieben war, als sie sich noch analoger Verfahren bedienten, scheint der „Digital Turn“ zunächst nur einen quantitativen, keinen qualitativen Sprung zu bewirken. Tatsächlich jedoch zeigen sich die Grenzen zwischen den Medien bei den vielfältigen, mit großem Aufwand betriebenen Bemühungen, analoge Bild- und Tondokumente in digitale zu transferieren.

Für die zeitgeschichtliche Forschung, die sich neben schriftlichen gerne auch auf audiovisuelle Dokumente stützt, stellt sich dabei die Frage nach deren medialen Besonderheiten aus zwei Gründen mit besonderer Dringlichkeit: zum einen, weil sie sich mit dem Rückzug und dem Verschwinden der analogen Medien selbst als Forschungsgegenstand anbieten, zum anderen, weil beim digitalen Transfer die Identität des Forschungsgegenstandes verloren zu gehen droht (zwei Abzüge von einem Fotonegativ sind möglicherweise zwei Exemplare ein und desselben Fotos, ein Film und sein Videotransfer sind immer zwei verschiedene Dinge).

Das Panel stellt diese Frage mit Rücksicht auf die technischen, organisatorischen und institutionellen Rahmenbedingungen, die der zeithistorischen Forschung den Zugriff auf audiovisuelle Medien ermöglichen. Mit der Vorstellung einer neuen transmedialen Technologie zur wissenschaftlichen Annotation von Filmen präsentiert es darüber hinaus in exemplarischer Weise einen Grenzgang zwischen den Medien.

Chair

Siegfried Mattl (Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft)

TeilnehmerInnen

Alexander Horwath (Österreichisches Filmmuseum)

Ingo Zechner (Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft, Österreichisches Filmmuseum)

Robert Pfundner (Österreichische Mediathek)

 

Vorträge:

Alexander Horwath

Film und die digitale Kultur

Das Österreichische Filmmuseum als Cinémathèque, Archiv und Labor

Film ist in der zeitgeschichtlichen Forschung meist durch andere Medien vermittelt präsent: Die Kultur- und Geisteswissenschaften bedienen sich des Fernsehens, der Videokassette, der DVD und anderer digitaler Datenträger sowie des Internet, wenn sie Filme zeigen, als Quelle verwenden oder über sie als Gegenstand sprechen und schreiben. Mit dem digitalen Kino verschwindet der Film nicht nur aus der Produktion, sondern auch aus der Projektion und wird endgültig zu einem im doppelten Wortsinn historischen Medium, zum Archivgut und zum musealen Objekt.

Eine Institution wie das Österreichische Filmmuseum, das sich seit seiner Gründung der medienadäquaten und medienspezifischen Überlieferung, Präsentation und Vermittlung von Filmen gewidmet hat, übernimmt dabei eine besondere Rolle. Wenn alle drei Aufgaben eine Bewahrung des Mediums voraussetzen, die sich nicht auf einzelne Objekte beschränken kann, sondern ganze technisch-ästhetische Dispositive umfassen muss (vom Trägermaterial bis zu den Apparaturen und zur Herstellung, Konservierung und Handhabung von beiden), bedarf es auch klar definierter Strategien im Umgang mit dem Digitalen und seinen Grenzen: Die Restaurierung von Filmen setzt schon seit langem auf digitale Verfahren, viele Unikate in obsoleten Filmformaten lassen sich überhaupt nur noch durch einen digitalen Zwischenschritt retten. Jede Benutzung eines Filmträgers gefährdet seine Bewahrung, zugleich setzt die Erforschung von Filmen vielfach eine Verfügbarkeit und Nutzungsweise voraus, die in ihrer materialgerechten Präsentation auf der Leinwand nicht gegeben ist. Was bedeutet dieses Dilemma für das Ziel, ein sinnliches Verstehen des Mediums Film zu ermöglichen und ein medienkulturelles Unterscheidungsvermögen zu fördern? Was bedeutet es für die kulturgeschichtlichen, technologischen und ästhetischen Besonderheiten des Mediums Film, die sich im Moment seines Verschwindens zunehmend selbst als Gegenstand zeitgeschichtlicher Forschung anbieten?

 

Ingo Zechner

Digitale Annotation von Filmen

Eine neue transmediale Technologie

Die Verwendung von Filmen zur zeitgeschichtlichen Forschung und Vermittlung stößt sehr schnell an mediale Grenzen: Da ist die Grenze zwischen dynamischen Bildern und statischen Texten, die den Film und seine Beschreibung trennt. Und da ist die Grenze zwischen den verschiedenen Formaten, in denen ein Film vorliegen kann. Der Film und seine Transfers in analoge und digitale Videoformate teilen in der Regel nicht einmal die Grundeinheiten, auf die sich die Beschreibung beziehen kann: die Anzahl von Bildern in der Sekunde, den genauen Zeitpunkt und die Dauer einer Einstellung und einer Sequenz. Europäische Videotransfers sind kürzer als amerikanische und der Timecode, der beide mit dem transferierten Film verbindet, ist für die meisten Nutzer nicht verfügbar. In dem Beitrag wird eine neue Technologie vorgestellt, die diese grundlegenden Probleme löst und neue Möglichkeiten der Erschließung, Auswertung und Präsentation von Filmen mit Hilfe des Internet und anderer digitaler Medien eröffnet.

In einem gemeinsamen Zukunftsfonds-Projekt von Österreichischem Filmmuseum, Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft und United States Holocaust Memorial Museum entwickelt, ergab sich der Bedarf für eine solche transmediale Technologie aus dem Umgang mit einer bestimmten Gruppe von Filmen, die nicht für sich selbst sprechen: Amateurfilme und andere ephemere Filme zum Nationalsozialismus in Österreich enthalten eine Fülle von Details und Besonderheiten, die sich erst einem informierten Blick erschließen. Eine Webapplikation, die sich die Vorteile des neuen Internetstandards HTML5, des internationalen Metadatenstandards PBCore und von objektorientierten Datenbanken zunutze macht, ermöglicht die Durchsuchbarkeit und die direkte Anbindung von Informationen über Inhalt, Form und Entstehung der einzelne Bilder, von Geodaten, audiovisuellem Vergleichsmaterial und anderen historischen Quellen an die einzelne Sequenz, die einzelne Einstellung oder sogar den einzelnen Kader des Films.

 

Robert Pfundner

Audiovisuelle Quellen im digitalen Zeitalter

Chancen und Probleme am Beispiel der Österreichischen Mediathek, dem nationalen Archiv für Ton- und Videoaufzeichnungen

Der Zugang zu AV-Quellen ist für ZeithistorikerInnen besonders wichtig. Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf die Archivsituation – für heutige und morgige BenutzerInnen und für das Archiv? Welche Aspekte sind zu berücksichtigen und welche Probleme tauchen auf, wenn wir davon sprechen, dass das digitale Archiv die Zukunft ist, die Digitalisierung die einzige Möglichkeit ist AV-Quellen zu erhalten und dieser Umstand die Benützung und Zugänglichkeit revolutioniert? Neben der Erhaltung von AV-Quellen der letzten hundert Jahre, gibt es die Situation, dass heute immer mehr der neuproduzierten und relevanten Quellen digitale Quellen sind. Davon auch immer mehr audiovisuelle Quellen.

Wie kann man diesem gesellschaftlich immer wichtigeren Stellenwert als HistorikerIn und als Archiv Rechnung tragen, in Zeiten wo sich Pflichtabgaben weiterhin nur auf Druckwerke beschränken? Wo liegen die Chancen und Probleme der Zugänglichkeit? Können Sammlungsstrategien und Verlegungen von Archivteilen und Quellensammlungen ins Internet helfen? Die praktischen Erfahrungen der Österreichischen Mediathek mit den Hoffnungen, Zielen und Grenzen der Praxis, sollen helfen, diese Aspekte realistischer einzuschätzen.