Vortrag in der Reihe »Interaktionen« am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien
15. Juni 2000
In der Erotikbranche signalisiert das Kürzel SM eine feste Verbindung von Praktiken, die seit Krafft-Ebings Psychopathia sexualis mit den Namen Sade und Masoch verbunden sind. Im Werkverzeichnis des französischen Philosophen Gilles Deleuze (1925-1995) gilt SM hingegen als Sigle für eine Schrift, die in minutiöser Detailarbeit den Nachweis zu erbringen versucht, warum Sadismus und Masochismus völlig verschieden und daher unvereinbar sind: Sacher-Masoch und der Masochismus, auf deutsch erschienen im Anhang zu dessen Roman Venus im Pelz.
Diese relativ frühe und leider kaum rezipierte Arbeit bietet die exemplarische Chance, die Originalität des Deleuzeschen Denkens in seinen gesamten Valeurs zu studieren: vor allem jedoch seinen Umgang mit Werken der Kunst und der Literatur, aus denen Deleuze nicht lediglich Anstöße, sondern ganze Konzepte für ein „schöpferisches“ Denken zu gewinnen versucht.
„Kritik und Klinik“ lautet die allgemeine Formel für diesen Versuch: Künstler und besonders Autoren literarischer Werke gelten Deleuze in dem Maße als Kliniker, wie Kliniker, die ein neues symptomatologisches Tableau erstellen, als Schöpfer künstlerischer Werke zu gelten haben. Künstler als Diagnostiker der Zivilisation – Kliniker der Welt. Der schöpferische Anteil des Kritikers – des Historiographen der „Klinik“ –, dessen Aufgabe Deleuze übernimmt, ist dabei nicht leicht zu isolieren. Das macht Deleuze für Historiker so interessant wie gefährlich: historiographische Rekonstruktion ist von Konstruktion nicht zu trennen, diese wiederum macht sich der Fiktion oder schlicht der Erfindung verdächtig – jede der zahlreichen philosophiehistorischen Arbeiten von Deleuze (zu Spinoza, Leibniz, Hume, Kant, Nietzsche, Bergson u.a.) führt das vor Augen, und alle versuchen eine Antwort auf die Frage zu geben, was Philosophie überhaupt ist. Meine Grundthese ist, dass diese Einsicht das Werk von Deleuze selbst nicht verschonen kann. Womit ich in eins die Frage nach einem Zugang zum Werk von Deleuze stellen will: Warum nicht über den Masochismus? – obwohl es ganz andere Zugänge geben könnte...
Literatur
Die beste Einführung ins Thema bietet Deleuze selbst in einem knappen Essay :
Gilles Deleuze, Re-présentation de Masoch [Paris 1989], dans: Critique et Clinique, Paris: Les Éditions de Minuit 1993, p. 71-74.
[Englische Übersetzung: Gilles Deleuze, Re-presentation of Masoch, in: Essays critical and clinical, transl. by Daniel W. Smith and Michael A. Greco, Minneapolis 1997, p. 53-55.]
Der Vortrag bezieht sich vor allem auf Gilles Deleuze, Sacher Masoch und der Masochismus [frz. Paris 1967], übers. von Gertrud Müller, in: Leopold von Sacher-Masoch, Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze, Frankfurt am Main: Insel Taschenbuch 1980, S. 163-281.