Vorträge: Philosophie


Politik des Glatten und des Gekerbten – Konstruktivismus des Raumes bei Deleuze und Guattari

Ingo Zechner

Vortrag an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), Corner College, Zürich

24. März 2010

Filz und Gewebe, Patchwork und Stickerei, eine nomadische und eine sesshafte Kunst: Neben Techniken des traditionellen Kunsthandwerks sind es einige Grundbegriffe einer elementaren Gestaltungslehre und einer neuen Ästhetik, die Gilles Deleuze (1925-1995) und Félix Guattari (1930-1992) zur Veranschaulichung und Definition ihrer Unterscheidung von glatten und gekerbten Räumen heranziehen: das Verhältnis von Punkt, Linie und Fläche, von taktiler, haptischer und optischer Wahrnehmung usw.

Das Glatte und das Gekerbte bilden ein begriffliches Instrumentarium, mit dem sich – heute mehr denn je – politische und ökonomische Entwicklungen analysieren lassen: die prekäre Beziehung zwischen einer global agierenden Kriegsmaschine und einem lokalen Staatsapparat oder das Verschwinden der Grenze zwischen freier Tätigkeit und Arbeit.

Der Vortrag hat die Konzeption von Deleuze und Guattari nachgezeichnet. In seinem Zentrum stand die Frage nach den ungenutzten Potenzialen ihrer Analyse und damit zugleich die Frage nach einem bestimmten Verhältnis von Kunst, Ästhetik und Politik.

Lektüretipp: Gilles Deleuze / Félix Guattari, »Das Glatte und das Gekerbte«, in: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, aus dem Franz. übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullíé, Merve Verlag 1992, 657-693 (= 14. Kapitel, »1440«).

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland – Heideggers Todesfuge

Ingo Zechner

Lecture held at the Tenth Annual Interdisciplinary German Studies Conference
(»Finite Subjects: Mortality and Culture in Germany«), University of California at Berkeley
April 6, 2002

Die Endlichkeit des Daseins gehört zu den unerschütterlichen Gewissheiten in Martin Heideggers „Sein und Zeit“. Dem Dasein ist sein Ende gewiss, fraglich ist nur, wann, wo und wie es enden wird. In der Art des Bewusstseins dieser Frage unterscheidet sich – Heidegger zufolge – ein „eigentliches“ von einem „uneigentlichen“ Dasein. Heidegger begreift das Dasein als ein „Sein zum Ende“, den Tod hingegen als ein „Zu-Ende-sein“ des Daseins. Das ist kein bloßes Wortspiel, vielmehr steht das Spiel mit den Worten bei Heidegger wie immer (entgegen der Meinung zahlreicher Kritiker) im Dienst der Sache: Das „Sein zum Ende“ ist ein Verhältnis des Daseins zu seinem Ende, während das „Zu-Ende-sein“ ein Ende all seiner Verhältnisse bedeutet. Ebenso ist „Dasein“ nicht bloß ein anderes Wort für „Subjekt“, sondern ein neuer Begriff, der den phänomenologischen Begriff von Subjektivität aufgreift, ins Deutsche übersetzt und zugleich transformiert. Zu seinen entscheidenden Komponenten zählt – neben dem „In-der-Welt-sein“ und dem „Mitsein mit anderen“ – seine zeitliche Struktur, in der seine Endlichkeit begründet ist. Diese Endlichkeit versteht Heidegger als Möglichkeit des Daseins: als seine „eigenste Möglichkeit“, weil sich das Dasein in der Verwirklichung dieser Möglichkeit von niemand anderem vertreten lassen kann; und als seine „äußerste Möglichkeit“, weil sie die Möglichkeit des Endes all seiner anderen Möglichkeiten ist.

Bei Heidegger wird der Tod zum principium individuationis. Es ist der Tod, der das Dasein aus der Alltäglichkeit herausreißt und ein „Selbst“ konstituiert, das sich vom „Man“ unterscheidet. Und es ist sein Verhältnis zum Tod, durch das sich das Dasein als ein besonderes Seiendes von allem anderen Seienden abhebt (vom Verenden des Lebendigen und vom Enden des Unlebendigen). Dieses Verhältnis ist eines der Angst – denn der Tod ist eine ständige Bedrohung. Heidegger versucht sorgfältig, Angst und Furcht zu unterscheiden und ermuntert dabei zu einem „Mut zur Angst“. Die Vorwegnahme des eigenen Todes erschließe dem Dasein im „Freiwerden für den eigenen Tod“ seine äußerste Möglichkeit: In der „Entschlossenheit“ zur „Selbstaufgabe“ trotzt das Dasein dem Zufall seines eigenen Endes. Heidegger verspricht sich und seinen Jüngern von diesem Trotz ein mögliches „Ganzsein des Daseins“. Wer alles aufs Spiel setzt, wird alles gewinnen...

In meinem Beitrag entfalte ich die These von der ontischen Gebundenheit von Heideggers ontologischer Analyse und gehe ihren möglichen politischen Implikationen nach. Mit anderen Worten: Während Heidegger in „Sein und Zeit“ die zeitliche Struktur des Daseins als zeitlos ausgibt, versuche ich zu zeigen, worin sie historisch determiniert ist. Dazu zählt nicht zuletzt Heideggers Weigerung, ein Weiterleben nach dem Tod überhaupt in Betracht zu ziehen – wodurch sich die von ihm beschriebene Todeserfahrung als eine spezifisch moderne Erfahrung erweist. Dieser stillschweigenden Modernität steht ein offener Anti-Modernismus gegenüber, der bereits alle Voraussetzungen für Heideggers spätere Parteinahme für den Nationalsozialismus enthält. Ich möchte nachzeichnen, wie Heidegger in seiner berüchtigten „Rektoratsrede“ von 1933 direkt an die Konzeption des Seins zum Tode von 1927 anschließt, so dass der nationalsozialistische Aufruf zum Kampf wie eine politische Übersetzung der Entschlossenheit zur Selbstaufgabe erscheint.

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SM

Ingo Zechner

Vortrag in der Reihe »Interaktionen« am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien
15. Juni 2000

In der Erotikbranche signalisiert das Kürzel SM eine feste Verbindung von Praktiken, die seit Krafft-Ebings Psychopathia sexualis mit den Namen Sade und Masoch verbunden sind. Im Werkverzeichnis des französischen Philosophen Gilles Deleuze (1925-1995) gilt SM hingegen als Sigle für eine Schrift, die in minutiöser Detailarbeit den Nachweis zu erbringen versucht, warum Sadismus und Masochismus  völlig verschieden und daher unvereinbar sind: Sacher-Masoch und der Masochismus, auf deutsch erschienen im Anhang zu dessen Roman Venus im Pelz.

Diese relativ frühe und leider kaum rezipierte Arbeit bietet die exemplarische Chance, die Originalität des Deleuzeschen Denkens in seinen gesamten Valeurs zu studieren: vor allem jedoch seinen Umgang mit Werken der Kunst und der Literatur, aus denen Deleuze nicht lediglich Anstöße, sondern ganze Konzepte für ein „schöpferisches“ Denken zu gewinnen versucht.

„Kritik und Klinik“ lautet die allgemeine Formel für diesen Versuch: Künstler und besonders Autoren literarischer Werke gelten Deleuze in dem Maße als Kliniker, wie Kliniker, die ein neues symptomatologisches Tableau erstellen, als Schöpfer künstlerischer Werke zu gelten haben. Künstler als Diagnostiker der Zivilisation – Kliniker der Welt. Der schöpferische Anteil des Kritikers – des Historiographen der „Klinik“ –, dessen Aufgabe Deleuze übernimmt, ist dabei nicht leicht zu isolieren. Das macht Deleuze für Historiker so interessant wie gefährlich: historiographische Rekonstruktion ist von Konstruktion nicht zu trennen, diese wiederum macht sich der Fiktion oder schlicht der Erfindung verdächtig – jede der zahlreichen philosophiehistorischen Arbeiten von Deleuze (zu Spinoza, Leibniz, Hume, Kant, Nietzsche, Bergson u.a.) führt das vor Augen, und alle versuchen eine Antwort auf die Frage zu geben, was Philosophie überhaupt ist. Meine Grundthese ist, dass diese Einsicht das Werk von Deleuze selbst nicht verschonen kann. Womit ich in eins die Frage nach einem Zugang zum Werk von Deleuze stellen will: Warum nicht über den Masochismus? – obwohl es ganz andere Zugänge geben könnte...

Literatur

Die beste Einführung ins Thema bietet Deleuze selbst in einem knappen Essay :

Gilles Deleuze, Re-présentation de Masoch [Paris 1989], dans: Critique et Clinique, Paris: Les Éditions de Minuit 1993, p. 71-74.

[Englische Übersetzung: Gilles Deleuze, Re-presentation of Masoch, in: Essays critical and clinical, transl. by Daniel W. Smith and Michael A. Greco, Minneapolis 1997, p. 53-55.]

Der Vortrag bezieht sich vor allem auf Gilles Deleuze, Sacher Masoch und der Masochismus [frz. Paris 1967], übers. von Gertrud Müller, in: Leopold von Sacher-Masoch, Venus im Pelz. Mit einer Studie über den Masochismus von Gilles Deleuze, Frankfurt am Main: Insel Taschenbuch 1980, S. 163-281.

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